Tocotronic – Wie wir leben wollen

Es gibt diese Dinge, über die man nur schreibt, weil man bereits zuvor über ähnliche Dinge geschrieben hat, zu denen dieses neue Ding eine Fortsetzung ist. So geht es mir mit “Wie wir leben wollen” von Tocotronic ((Die bald ihr 20 Jähriges Band-Jubiläum mit einer LP namens >20< begehen werden.)) : Ich habe Jahre mit der Musik von Tocotronic in meinen Ohren verbracht. Aber das Leben ändert sich, verändert einen, und so ist es passiert, das ich nicht mehr viel Musik höre. Ja, es hat Monate in den letzten zwei Jahren gegeben, in denen ich keine Musik aus eigenem Antrieb gehört habe, keine Musik um des Musikhörens wegen. Sondern nur Musik aus Filmen, nur Musik aus dem Autoradio von furchtbaren Sendern mit penetranter Radiowerbung ((ohne Zweifel eine wirkmächtige Werbeform, die das Gehirn der Hörer und Hörigen direkt penetriert…)) und unwitzigen Moderatoren, die aber die Fahrerin schätzt, Klassik in der U-Bahn-Station und sonst gar keine Musik. Ich habe mich nicht hinter Kopfhörern verschanzt, sondern bin mit offenen Ohren durch die Welt gegangen. So viele zusätzliche Gespräche habe ich deswegen auch nicht geführt, aber ein paar waren es schon und darunter sogar solche, die sich lohnten. Ich habe viel gelesen, viel auf Englisch, noch mehr in dieser Sprache hier; und leider bin ich wohl zu alt, um gleichzeitig Musik zu hören und (konzentriert) zu lesen; oder jedenfalls: Die Musik von Tocotronic kann ich nicht beim Lesen hören.

Wie wir leben wollen - Screenshot Google Play Music on Android

Wegen all dieser Unwägbarkeiten ist es passiert, dass ich erst Monate (gefühlt ist es ein halbes Jahr) nach dem Kauf dieses immer noch aktuellsten Tocotronic-Albums darüber schreibe. Was besonders ist: Ich habe dieses Album ohne physische Repräsentanz beim Spielplatz der großen Zahl erworben, rein digital, Einsen und Nullen. Das war ein Impuls, da durch Prokrastination die angestrebte Limited Edition leider nicht mehr verfügbar war. Ich gebe zu, dass ich das nicht besonders gut durchdacht habe; es wäre wirklich deutlich klüger gewesen, eine normale CD zu kaufen, mit Hülle, Booklet und allem. Denn das fehlt wirklich: Eine Hülle, ein kleines, sorgsam komponiertes Heftchen, oder wenigstens eine digitale Repräsentanz davon. Wie soll man über etwas schreiben, dass man nicht greifen kann, ohne halb verliebt den Text beim Hören in einem schönen Heftchen mitzulesen?

“Alles ist entschuldigt, niemand wird angeklagt, niemand wird beschuldigt, keine Meinung wird gesagt” singt Dirk von Lotzow, der schon lange nicht mehr der Halbkrakeler ist, der Teil einer Jugendbewegung sein will, z.B. in einem Song mit dem schönen Titel “Chloroform”. Ich kann den Klang nicht mit Worten beschreiben, um ehrlich zu sein; es fehlt mir in meinem Schreibzeugkasten an geeignetem Wortmaterial. Er singt ein Lied später “Ich bin ein Neutrum mit Bedeutung (…) ich habe mehr als tausend Seiten, ich bin ein fließender Roman”. Das tolle ist, und das macht dieses Album ((bei dem ich das physische Bonusmaterial so sehr vermisse…)) für mich besser als das Voherige (Schall & Wahn), dass dabei, trotz mit all dieser Poesie ((Na ja, teilweise mögen es nur poetische Versuche sein, aber wer wagt das noch?)) trotzdem gute Songs entstanden sind, die klanglich für sich stehen können. Vorbei ist die Bemühung, auch die ewigen Mitglieder der geheirateten Familie oder die Teile der Jugendbewegung auf Gedeih und Verderb irgendwie zufriedenzustellen, was gut ist, da dies, das belegen zahlreiche Amazon-Kritiken, ohnehin nie gelang.

Was mich bei Schall&Wahn und Kapitulation ein wenig zweifeln lies, die Rückkehr von Schrammelsounds oder gar einer Art von überbackenen Protestsongs ((zum Beispiel Stürmt das Schloß” oder “Sag alles ab!”)) ist diesmal abgesagt. Stattdessen steht da ein ziemlich einheitliches Klangbild, welches dennoch verschiedene Tempi und Dynamiken zulässt und im Ergebnis eine schöne Einheit entstehen lässt. Wenn man durch die gesamte Tocotronic-Produktion “shuffled”, lassen sich die neuen Titel klar “Wie wir leben wollen” zuordnen.

Da mag man behaupten, dass man gerade heute, mehr denn je, Protestsongs bräuchte. Aber “gerade heute, mehr denn je” ist ständig. Man könnte auch in die Textgebilde Dirk von Lotzows eine Möglichkeit zur techniklosen Verschlüsselung von Botschaften hereininterpretieren, eine Geheimsprache, an der sich die NSA die Zähne ausbeist.

Man kann das auch alles lassen und sagen: Gelungen, Chapeau! Oder sogar: Dies hat das Potenzial zur Zeitlosigkeit. Sofern wir damit leben wollen.

P.S.: Mein persönliches Highlight ist übrigens “How we aim to live”, die englische Fassung des Albentitelsongs “Wie wir leben wollen”, eingesungen von Rick McPhail.